Urbane Evolution: Wenn in Städten neue Arten entstehen - WELT (2024)

Auf dem Land sterben die Arten, in der Stadt entstehen neue. Das glaubt ein niederländischer Biologe. Gibt es bald Asphalt-Schwalben, U-Bahn-Mücken, Parkmäuse? In einem Fall gibt es konkrete Belege.

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Es ist wunderlich und dennoch wahr: Oft ist es unser Menschenbild, dass darüber entscheidet, wie wir Ameisen sehen. In „Der König auf Camelot“ etwa, der pazifistisch geprägten, fantastischen Nacherzählung des Artusstoffs durch einen Misanthropen namens T. H. White, verwandelt der Zauberer Merlin den künftigen König in eine Ameise, um ihn die Schrecken der Menschheit zu lehren.

Denn Ameisen und Menschen haben Furchtbares gemein: Anders als andere Bewohner des Planeten Erde führen sie Kriege gegen die eigene Art.

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Ökosystem-Ingenieure

Doch Menschen und Ameisen haben noch eine andere Gemeinsamkeit – eine, die man zwar ebenso furchterregend finden, aber eben auch bewundern kann: Beide sind „Ökosystem-Ingenieure“; sie schaffen eine eigene Welt, deren Lebensraum sich auch andere Wesen anpassen.

Kleine Käfer etwa haben vor Urzeiten gelernt, mittels chemischen Signalen „Ameisisch“ zu sprechen, um unbehelligt in Ameisenbauten zu leben; andere überdauern unerkannt im Ameisenmüll. Und weiß man das erst, erscheint die kaltherzige Ameise auf einmal als wohlmeinender Patriarch und Binnenschöpfer.

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Tatsächlich mag es dieselbe Art von Imagekorrektur sein, die uns so gefällt, wenn wir von den Krähen im japanischen Sendai hören, die ab 1975 als Erste Autoreifen nutzten, um Nüsse zu knacken, oder einen Fuchs beobachten, der in der Nacht seelenruhig durch unsere Straße streift.

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Der Hühnerdieb von einst hat sich ja mittlerweile in eine Erlöserfigur verwandelt. Als Zivilisationsfolger erlöst er uns für einen kurzen Augenblick von unseren zahllosen Sünden, die sich zum Massensterben im Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, summieren.

Der niederländische Biologe Menno Schilthuizen ist fraglos ein Ameisenfreund. Als Kind hat er Ameisenbauten aufgebuddelt, um die dort versteckten Käfer zu finden; als gereifter Autor hat er nun ein Buch veröffentlicht, das die menschengemachte Stadt als tierischen Lebensraum beschreibt.

Die Farben der Industrialisierung

Im englischsprachigen Raum erfährt es bereits viel Aufmerksamkeit; eine deutsche Ausgabe von „Darwin Comes To Town“ wird im Herbst bei dtv erscheinen. Schilthuizens These: Die Stadt ist der neue Motor der Evolution; die Metropole das neue Galapagos.

Abwegig ist dieser Gedanke nicht. Das Beispiel des Birkenspinners etwa, eines Nachtfalters, hat Biologiegeschichte geschrieben, als nachgewiesen werden konnte, dass er auf dem Höhepunkt der Industrialisierung in den kohlenstaubverseuchten Wäldern Manchesters mehrheitlich die Farbe wechselte.

Eine zufällige Mutation schwärzte seine Flügel und passte ihn seiner neuen verrußten Umgebung an – ein Prozess, der sich mittlerweile, in anders verdreckten Zeiten, schon wieder umgekehrt hat. „Heute“, berichtet Schilthuizen, „ist dunkle Form so selten wie 1848 .“

Mücken steigen nicht um

Aber Schilthuizen berichtet auch von anderen, ungleich unbekannteren Triumphen der Natur über die Kultur; jeder einzelne famoser Troststoff, Geschichten vom siegreichen Underdog.

In den U-Bahn-Tunneln Londons etwa haben sich Mücken ganz auf Pendlerblut spezialisiert und sich dem Leben in den Schächten angepasst, durch die sonst nur die Lindwürmer der Züge donnern.

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Die Winterruhe fällt aus, das Paarungsverhalten hat sich verändert, und weil Mücken nicht umsteigen, sind die einzelnen Tunnel wiederum Galapagosinseln für sich, isolierte Lebenswelten im Untergrund der Stadt. Zumindest im Labor des Genetikers lassen sich die Mücken der Bakerloo und Victoria Line bereits unterscheiden.

In den Ankerzentren der Parks

Doch auch anderswo herrschen jene Inselbedingungen, die zur Diversifizierung der berühmten Darwinfinken führten. In Kalifornien sind Luchse von zehnspurigen Highways umzingelt – eine Fragmentierung, die vermutlich eher zur Verarmung ihres genetischen Erbes führt, das heißt zu Inzucht und Anfälligkeit statt zur Bereicherung der Artenliste.

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In Paris leben migrantische Halsbandsittiche in den Ankerzentren diverser Parks, ohne sie, weil sie auf Schlafbäume angewiesen sind, jemals zu verlassen. Und auf einer Insel, die vor langer Zeit einmal Manahatta hieß, geht es auch den Ureinwohnern nicht anders.

Bevor New York City errichtet wurde, besiedelte die Weißfußmaus die gesamte Insel, mittlerweile sind die verbliebenen Populationen in den diversen Stadtparks isoliert und haben, je nach Park, genetische Eigenheiten ausgeprägt. In den Weißfußmäusen des Central Parks etwa, schreibt Schilthuizen, sei ein Gen namens FADSI auffällig aktiv. Es hilft beim Genuss besonders fettiger Nahrung.

Eine hektische Evolution?

Doch ist das alles schon Evolution? Was ist gelernt, was neuerdings angeboren? Welche Mutation ist neu und welche alt, nur eben plötzlich nützlich? Die Gefahr ist groß, einer urbanen Evolution das Tempo einer Stadt zuzuschreiben, so als affiziere die Metropole sogar den innersten Mechanismus des Lebens mit ihrer Hektik.

Nimmt die Evolution unter den Bedingungen des Anthropozän Tempo auf oder sind es nur wieder die ewig ungeduldigen Menschen, die den erlösenden Beweis für eine sich doch irgendwie berappelnde Natur noch während ihrer Lebensspanne sehen wollen?

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In Chicago gibt es Kojoten, die Ampeln lesen; Vögeln, die unter Autobahnen nisten, wachsen manchmal kürzere Flügel, weil Senkrechtstarts in Asphalt-Biotopen Leben retten – aber das sind nur kleine Mutmachgeschichten in einer verheerenden großen Erzählung. Evolution bleibt ein nach Menschenmaß unheimlich langsamer Prozess – womöglich zu langsam für das „Survival of the fittest“ vieler Arten.

Darwins Zweifel

Andererseits: Selbst Darwin sind, was das Tempo der Evolution betrifft, in späteren Jahren leise Zweifel gekommen. In den ersten vier Auflagen seines Jahrhundertbuchs „Vom Ursprung der Arten“ erklärte er, Evolution sei „immer“ ein sehr langsamer Prozess, in der fünften Auflage jedoch ersetzte er das „immer“ durch ein „in der Regel“.

Und tatsächlich hat Menno Schilthuizen eine Vogelart zu bieten, bei der vieles dafür spricht, dass sich ihre urbanen Populationen in diesem Moment zu einer neuen, eigenen Art entwickeln.

Aus Turdus merula, der Amsel oder Schwarzdrossel, könnte derzeit tatsächlich die Stadtamsel entstehen – so sich ein Prozess, der im frühen 19. Jahrhundert in Rom, Bamberg und Erlangen begonnen hat (ohne bisher Marseille oder Moskau erreicht zu haben), fortsetzt.

Turdus urbanicus

Damals zog die waldbewohnende Amsel in die Stadt, dann begann sie, dort zu überwintern und schließlich auch zu brüten. Heute haben Stadtamseln kürzere Schnäbel als ihre Vettern in der Provinz, sie singen andere und – gegen den Lärm der Stadt – auch lautere Lieder. Sie stehen zeitiger auf, brüten, weil ihr angeborener Hormonhaushalt das so will, früher und erweisen sich, weil sich auch ihr Serotoninhaushalt verändert hat, als stressresistenter.

Turdus merula könnte also tatsächlich auf dem Weg sein, Turdus urbanicus zu werden – im Schutz und unter der Herausforderung des menschlichen Ameisenbaus aus Stahl und Glas und Beton, aus schier endlosen Straßen und umzingeltem Grün. Wenn das so ist, sollten wir uns allerdings nichts vormachen: Kein Noah ist an dieser Geschichte beteiligt. Gibt es eine Arche, hat die Natur sie selber gebaut.

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