Steven Wilson: Der wahrscheinlich unbekannteste Superstar der Welt - WELT (2024)

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Steven Wilson sitzt vor einem gewaltigen Plattenregal. Das Kompliment für die Sammlung nimmt er gerne entgegen: „Ein Lebenswerk.“ Aber warum schaut er im anschließenden Zoom-Gespräch nur immer wieder nach unten? Warum zucken seine Arme? Woran fummelt er da? Irgendwann, inmitten einer Erklärgeste, bei denen er die Hände hebt, wird klar: Es ist ein Rubik’s Cube. Ist das unhöflich? Nein. Es ist ein Geschenk – für einen guten Einstieg in eine Steven-Wilson-Geschichte.

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Denn der Zauberwürfel ist eine Metapher für den britischen Musiker: Ein Kind der Achtzigerjahre, auf den ersten Blick geht es immer um dasselbe, ist aber doch stets neu. Vor allem ist Wilsons versteckte Würfelarbeit wie sein Werk selbst. Was ihm offenbar leicht von der Hand geht, ist tatsächlich irrsinnig kompliziert.

So scheitere ich gleich mit einem Lob für den Titelsong des Albums, einem neunminütigen bis auf zwei gesprochene Passagen instrumentalen Trip. Für den Laien ist es eine hypnotische Variation von drei Tönen. Wilson lacht: „Ein bisschen komplizierter ist es schon. Es ist ein Zyklus von 24 Akkorden, die tatsächlich aus drei Noten mit Arpeggios bestehen, die sich bis zum Ende dieses Zyklus nicht wiederholen. Das Stück ist also eine Sequenz von Akkorden, die rotieren.“ Aha, sage ich. Wilson lächelt. „Früher“, sagt er, „hätte ich mir gesagt: Nein, sowas kannst du nicht auf ein Album tun, das sind neun Minuten Ambient-Musik, in denen nichts passiert.“ Doch diesmal ist vieles anders.

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„The Harmony Codex“ ist Wilsons siebtes Soloalbum, elf Alben hat er mit Porcupine Tree aufgenommen, dazu kommt eine kaum mehr überschaubare Zahl von Projekten und seine fast exzessive Arbeit als Remixer von klassischen Alben von King Crimson, Yes, aber auch Chicago, XTC und Tears for Fears.

Überrasche dich selbst

Ich sage, dass ich „The Harmony Codex“ für das stevenwilsonhafteste Steven-Wilson-Album halte. Er widerspricht nicht. Wer würde das schon? Er überlegt, dreht die Würfelseiten mal nach links, mal nach rechts. Nach oben und unten. „Ja, es ist eines meiner besten Alben. Vielleicht sogar das Beste, ja. Sicherlich aber das experimentellste – im Sinne, dass man sich erlaubt, Dinge zuzulassen, die einen selbst überraschen.“

Steven Wilson ist wahrscheinlich der unbekannteste Superstar der Welt. Porcupine Tree, von ihm als Soloprojekt mit 19 Jahren gegründet und mit einer gefakten Biografie versehen, da er fürchtete, als Teenager nicht ernst genommen zu werden, waren schon vor dem Durchbruch mit „Fear of a Blank Planet“ (2007) Liebling der Progressive-Rock-Szene, galten als Erneuerer, Wilson als Gralshüter des Genres. Ihr letztes Album „Closure/Continuation“, nach 13 Jahren Pause, 2022 vollkommen überraschend erschienen, schaffte es in Deutschland auf Platz Eins der Charts. In dem PT-freien Jahrzehnt hat Wilson als Solokünstler viele neue Fans gewonnen, auch weit außerhalb seines Genres.

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Progressive Rock bildete zwar immer den Wesenskern, doch mischte er ihn mit fast krimineller Energie und künstlerischer Akribie mit Rock („Hand.Cannot.Erase“, 2015), Pop („To the Bone“, 2017) oder elektronischer Musik („The Future Bites“, 2021). Vor jedem Album wurde – von Journalisten und Fans – darüber spekuliert, ob es ihm, nach zweiten und dritten Plätzen, gelingen würde, die britischen Charts anzführen. Setzte ihn das unter Druck? „Natürlich wäre es toll, ein Nummer-Eins-Album zu haben. Aber am Ende ist es ohne Bedeutung, eine Woche an der Spitze zu stehen. Wichtiger ist, in der dritten, vierten Woche noch in den Top 20 zu sein.“

Das neue Album ist viel offener, weiter, eine hypnotische Reise, fast im Stil des frühen Porcupine-Tree-Meisterwerks „The Sky Moves Sideways“ von 1995. Die Trennung vom strengen Konzept tut Wilson gut. „Ich hatte immer eine feste Agenda. Hier zum ersten Mal nicht. Das hat mir sehr viele Freiheiten gegeben“, sagt er.

„The Harmony Codex” dürfte das letzte Lockdown-Album sein, das veröffentlicht wird. Wilsons Arbeit daran begann 2020, in der typischen, vielbeschriebenen Pandemie-Situation: ein Künstler allein in seinem Heimstudio, grübelnd, tüftelnd, probierend. „Ich begann mit dem Schreiben direkt im April 2020. Als wir aus dem Lockdown kamen, musste ich es nur noch aufnehmen.“ Fast eine Ironie des Schicksals: die Corona-Isolation hat den Künstler offener gemacht: „Ich machte das Album, ohne zu wissen, ob es überhaupt jemand hören würde. Der Lockdown hat mir einen total selbstbezogenen Zugang zur Musik ermöglicht.“

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Für Wilson war diese Art der Arbeit aber auch eine Rückkehr zu den ersten Erfahrungen als Musiker. „Meine Eltern haben mir schon als Kind einen richtig guten Musikgeschmack vermittelt. Meine Mutter hörte die richtige gute Disco-Musik, mein Vater eher ‚Dark Side oft he Moon‘ von Pink Floyd und ‚Tubular Bells‘ von Mike Oldfield.“ Schon früh begann er, selbst Stücke zu komponieren. Und verfügte als junger Teenager über Bordmittel, die selbst großen Bands damals nicht zur Verfügung standen. „Mein Vater war Elektroingenieur. Er baute mir einen kleinen Sequenzer und einen Kassettenrekorder, mit dem ich mehrspurig aufnehmen konnte. Auch einen Vocoder. Wie das alles funktionierte, musste ich selbst herausfinden – es gab ja noch kein Internet. Ich war damals zwölf Jahre alt.“

Mittlerweile 55 Jahre alt, äußerlich aber noch immer der brillentragende Nerd, das ewig jugendliche Wunderkind, ist die Klangtechnik zu seiner Obsession geworden. „The Harmony Codex“ erscheint in unzähligen High-End-Formaten und Mixen. Braucht man eine High-End-Anlage, um seine Musik zu verstehen? „Ich liebe klangtechnische Exzellenz und neue Technik. Im Moment ist Spatial Audio die aufregendste Entwicklung, aber es ist keine Elitensache, für die man einen Raum mit 50 Lautsprechern braucht. Jeder mit einem modernen Kopfhörer kann Dolby Atmos und 3D-Audio über Apple, Tidal oder Amazon hören.“

Steven Wilson: Der wahrscheinlich unbekannteste Superstar der Welt - WELT (4)

Trotzdem ist er Missionar. „Ich träume für dieses Album von einer anderen Art von Tour. Ich würde gerne in einer kleineren Halle eine ganze Umgebung mit Lichtinstallationen, Bildschirmen und einem Spatial-Audio-Sytem ausstatten, um eine kinoartiges, immersives Erlebnis zu schaffen.“

Ist ja schon richtig. Man darf kein Interview mit Steven Wilson führen, ohne nach der Zukunft von Porcupine Tree zu fragen. „Ich würde nie nie sagen. So habe ich es beim letzten Mal gesagt, und es stellte sich heraus, dass es gelogen war. Im Moment steht meine Solokarriere im Vordergrund. Aber wenn ich in der richtigen Stimmung bin und die anderen auch, wer weiß, vielleicht machen wir dann noch ein Album. Wobei, wenn nicht, dann wäre das letzte Album doch ein toller Schlusspunkt gewesen.“

Am Ende des Gesprächs ist der Zauberwürfel noch nicht gelöst. Sehr sympathisch.

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